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Und schon wieder liegt Otto von Bismarck am Boden. Diesmal ist der Reichskanzler sogar aufs Gesicht gefallen.

Fast liebevoll helfen ein Mann in einem gestreiften Sträflingsanzug und ein bärbeißiger Vollbartträger ihrem Idol wieder hoch – doch es nützt nichts.

Kaum losgelassen, liegt Bismarck wieder im Matsch. Der Wind hat ihn einfach umgefegt.

Diese Szene wiederholt sich noch ein paar Mal, dann haben der Sträfling und der Bärbeißige genug und räumen Bismarck, oder besser gesagt den Aufsteller mit dem einen Quadratmeter großen Konterfei des Mannes mit dem markanten Schnurrbart, beiseite.

Heute muss es für Stephan Stay und seine Mitstreiter wohl ohne Bismarck weitergehen, das Wetter meint es nicht gut mit dem ersten Reichskanzler des Deutschen Reiches.

Diese kuriose Szene hat sich jüngst so in einem Waldstück zwischen Darmstadt und Mühltal (Darmstadt-Dieburg) nahe des Bismarckturms an der B449 zugetragen.

Die Situation, aus der sie entstanden ist, wirkt nicht weniger kurios: Sonntag für Sonntag versammeln sich Stay, der Sträfling, der Bärbeißige und zwei weitere Menschen dort am Straßenrand, schwenken schwarz-weiß-rote Fahnen und wünschen sich das Kaiserreich und die Verfassung von 1871 zurück. Immer von 10 bis 11 Uhr und unter den wachsamen Augen von zwei Streifenpolizisten.

Stay, der die kleinen Kundgebungen Woche für Woche organisiert und ordnungsgemäß bei der Stadt anmeldet, bezeichnet sich und die anderen als “Monarchisten” oder als “Kaisertreue”, der Volksmund würde sie einfach Reichsbürger nennen.

Die Bundesrepublik, sogar bereits die Weimarer Republik seien unrechtmäßig ausgerufen worden, Politiker und Behörden ohne Legitimation und der deutsche Pass wertlos, sagen sie. Der Sträflingsanzug soll offenbar die Unterdrückung durch das System symbolisieren.

In Darmstadt und dem benachbarten Mühltal ist die Gruppe längst nicht nur bei Spaziergängern oder vorbeisteuernden Autofahrern Gesprächsthema, immerhin stehen sie bereits seit Anfang Oktober jede Woche dort, bei Wind und Wetter.

Die fünf Reichsbürger sind nicht laut, sie belästigen niemand, sie stehen einfach nur da im Wald und halten ihre Fahnen in den Wind. Man könnte sie für harmlose Spinner halten, wäre der Hintergrund nicht so ernst.

Zu präsent sind zum Beispiel noch die zahlreichen Verhaftungen im Dezember 2022 rund um den Frankfurter Reichsbürger Heinrich XIII. Prinz Reuß, dem vorgeworfen wird, mit Unterstützern auf einen großen bewaffneten Umsturz hingearbeitet zu haben.

“Reichsbürger sind Staatsfeinde und Verfassungsfeinde und somit per se eine Gefahr für eine rechtsstaatliche Demokratie”, sagt Experte Oliver Gottwald, der als Rechtspfleger für die Staatanwaltschaft Darmstadt arbeitet und die Reichsbürger-Szene schon seit vielen Jahren beobachtet. Er schult unter anderem Polizei und Behörden im Umgang mit diesen Menschen. Hinzu komme eine steigende Gewaltbereitschaft in der Reichsbürger-Szene.

Für Gottwald eine “logische Konsequenz”, schließlich begreifen sich Reichbürger als eine Art “Widerstandskämpfer”, die glauben, sich gegen eine “antideutsche Unterdrückung und Verschwörung” auflehnen zu müssen.

Reichsbürger Stay distanziert sich von Gewalt. Er verfolge keine Umsturzpläne. Er hoffe vielmehr auf “einen Prozess, der aus der Gesellschaft wächst”, sagt er dem hr.

Er möchte auch nicht in die Nähe von Rechtsextremen gerückt werden, mit Nazis will er nichts zu tun haben. Hitler mag er nicht. “Ich bin Hesse”, sagt Stay, und Hitler habe ihn “meiner Staatsangehörigkeit beraubt”. Er wolle nur seine “Heimat heilen”, beteuert er. Das klingt schräg, aber im Grunde harmlos.

Ist es aber nicht, sagt Gottwald. “Reichsbürger sind nicht automatisch Rechtsextreme oder Rassisten, die Ideologie hat ihre Grundlagen aber in den Theorien der Rechtsterroristen und Holocaustleugner Horst Mahler und Manfred Roeder”, erklärt der Rechtspfleger.

Die Reichsbürgerideologie sei im Grunde eine antisemitische und gebietsrevisionistische Verschwörungsideologie, die klar dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden kann. “Es ist aber nicht allen in der Reichsbürgerszene bewusst, dass sie da antisemitische Thesen verbreiten.” Es gebe viele Mitläufer in der Szene.

Dazu zähle wohl auch die kleine Gruppe im Darmstädter Wald, harmlos sei sie deswegen noch lange nicht. Denn durch ihre Forderungen helfe das Quintett bei der Verbreitung eben jener antisemitischen und rechtsextremen Ansichten – auch wenn das gar nicht ihre Absicht zu sein scheint.

Wie nah die Reichsbürgerszene dem Rechtsextremismus steht, zeigt laut Gottwald auch der Umstand, dass Reichsbürger vor allem dort zu finden seien, “wo Parteien der extremen Rechten wie die AfD, der Dritte Weg oder die Heimat hohe Wahlergebnisse erzielen”.

Das kann zu konkreter Gefahr führen, wie der Fall Prinz Reuß gezeigt hat. Unter seinen Mitstreitern waren etwa Angehörige der Spezialkräfte der Bundeswehr, Polizisten und eine ehemalige AfD-Abgeordnete mit Zutritt zum Bundestag. “Man muss damit rechnen, dass er irgendwann einmal zu Todesfällen durch die Reichsbürger kommt”, sagt Gottwald.

In Darmstadt sieht man diese Gefahr aktuell noch nicht. Die Polizei fährt jeden Sonntag raus zum Bismarckturm, um zu schauen, ob auch nur die Fahnen und Transparente gezeigt werden, die erlaubt sind und nicht etwa verbotene Flugblätter verteilt werden. Die Stadt will ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit schenken als nötig, wie Ordnungsdezernent Paul Wandrey (CDU) sagt.

In Mühltal, wo die fünf Reichsbürger ihre ersten Kundgebungen abhielten, trafen sie allerdings auf Gegenwehr. Dort organisierte Linda Frey im Herbst einen Gegenprotest. “Wir konnten einfach nicht zulassen, dass dort Reichsbürger demonstrieren und niemand etwas dagegen tut”, sagt die Grünen-Politikerin.

Daraufhin flüchteten Stay und seine Mitstreiter auf die nur wenige hundert Meter entfernte Darmstädter Seite der Stadtgrenze im Wald, wo sie seitdem in der Nähe des symbolträchtigen Bismarckturms nahezu unbehelligt ihre kruden Ansichten verbreiten dürfen. Mit oder ohne Bismarck.