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    11 months ago

    archive.ph Vater der in Berlin getöteten Louisa: „Damit nicht jeder Autofahrer e… 5 - 7 minutes

    Herr Herwig, am Mittwoch ist der Mann, der auf der Landsberger Allee Ihre Tochter totgefahren hat, zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Laut einem Gutachten fuhr der Täter viel zu schnell und missachtete eine Ampel, die für ihn seit 24 Sekunden Rot zeigte. In der Urteilsbegründung sagte der Richter, es gebe kein gerechtes Strafmaß für eine solche Tat und bestraft werden könne nur die individuelle Schuld. Können Sie und Ihre Familie damit leben? Ich habe ja keine Wahl. Aber ich empfinde das Urteil als Schlag ins Gesicht – für mich und für alle Eltern, die ihren Kindern beigebracht haben, nur bei Grün über die Straße zu gehen. Weder der Staatsanwalt noch der Richter haben ihre Entscheidungen schlüssig begründet.

    Beide haben dem Angeklagten abgekauft, dass er seit dem „Unfall“, wie sie es nennen, ein gebrochener Mann sei, der ohne Antidepressiva nicht mehr seinen Alltag meistern kann. Dennoch sind beide der Überzeugung, dass dieser Mann – nach Auffassung des Staatsanwalts sofort und nach der des Richters in sechs Monaten – wieder Kraftfahrzeuge führen kann. Zur Erinnerung: Er besitzt alle Führerscheinklassen und fährt beruflich wohl auch Lkw.

    Ich fühle mich durchaus verraten von dieser Justiz, die sich derart an der Nase herumführen lässt. Ich kann mich nämlich noch gut daran erinnern, dass der Mann mir auf die Frage, warum er denn gegenüber den Behörden keine Angaben zum Hergang macht, mir über seinen Gartenzaun hinweg mit fester Stimme und geradem Blick ins Gesicht sagte, dass das sein gutes Recht sei.

    Hat der Prozess denn für Sie die erhoffte Klärung gebracht? Sie hatten dem Beschuldigten ja eine Reihe von Fragen geschickt. Nichts davon ist geklärt! Er hat nur das zugegeben, was ohnehin nicht mehr zu leugnen war, weil es die Polizei eindeutig ermittelt hatte. Die Frage danach, was er gesehen und gemacht hat: völlig unklar. Die Frage, wo seine Augen und Hände waren, während er fast eine halbe Minute lang auf die rote Ampel zufuhr: offen. Daher sind in meinen Augen auch alle Entschuldigungen und dergleichen reine Heuchelei. Ich bin entsetzt, dass Richter und Staatsanwalt darauf eingestiegen sind.

    Auch die Staatsanwaltschaft hatte keine höhere Strafe gefordert. Der Ankläger sagte, der Täter sei „viel zu schnell gefahren“, wie es im Berliner Autoverkehr üblich sei, aber in aller Regel ungeahndet bleibe. Genau da beißt sich die Katze in den Schwanz. Vielleicht sollte er mal darüber nachdenken, ob in Berlin viele nicht genau deswegen wie die Besengten fahren – eben weil nie jemand richtig für ein Vergehen bestraft wird. Der Staatsanwalt hat sogar selbst betont, dass es sich um einen außergewöhnlichen Präzedenzfall handele, verwies aber gleichzeitig auf die strukturell zu niedrigen Strafen insbesondere in Berlin bei Verkehrsdelikten. Das klang für mich ein wenig nach dem Satirespruch „Für Berlin reicht‘s“.

    So dreht sich die Justiz in einem Kreis aus strukturell zu geringen Strafen, die sich ja immer aus den vorherigen niedrigen Strafen ableiten. So kann sich die Situation auch nicht ändern. Und wenn sich der Verteidiger in seinem Plädoyer auch dem Staatsanwalt anschließt, ist in meinen Augen etwas gründlich schiefgelaufen.

    Ihre Anwältin hatte die Möglichkeit eines vorsätzlichen Tötungsdelikts zur Debatte gestellt, weil die Ampel für den Autofahrer schon so lange Rot zeigte. Sie erwähnte gar das Mordmerkmal der Heimtücke, weil Ihre Tochter keine Chance hatte, sich zu retten. Wollen Sie das Urteil anfechten? Eigentlich nichts lieber als das, denn für mich offenbart das Urteil ein Versagen des Rechtsstaats auf allen Ebenen. Oder anders gesagt: Die Vertreter des Rechtsstaats demontieren jenes System, für das sie eigentlich stehen und welches sie schützen sollen.

    Erstens hat es der Gesetzgeber versäumt, ein angemessenes Strafmaß festzulegen und Lücken im Verkehrsstrafrecht zu schließen. Für das Totfahren von Fußgängern an roten Ampeln gibt es keinen wirklich passenden Paragraphen. Zweitens glaubt das Gericht, dass dieser Fall an einem Vormittag in einem Raum zu Ende verhandelt werden kann, in dem nicht einmal die Hälfte aller angereisten Prozessbeobachter Platz finden.

    Und drittens weigert sich das Gericht, die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs umzusetzen, die bei derart krassen Fällen durchaus einen bedingten Tötungsvorsatz erkennt. Der Richter behauptet, mit seinem Urteil das Rechtsempfinden der Allgemeinheit abzubilden. Alle Rückmeldungen, die ich bekommen habe, stehen dem diametral entgegen. Alle, die Louisa kannten und alle, die Kinder haben, sind entsetzt.

    Das heißt, Sie gehen in Revision? Schwer zu sagen. Die prognostizierten Kosten dafür liegen im Bereich zwischen 5000 und 15.000 Euro, wofür ich alleine das Kostenrisiko trage. Die Erfolgsaussichten sind laut Aussagen der Jurist:innen gering, und selbst im Falle eines positiven Urteils würde ich nicht die vollen Kosten erstattet bekommen. Aber ich will es dennoch versuchen – über einen Spendenaufruf auf der Webseite, die wir zum Gedenken an Louisa eingerichtet haben. Es ist nicht nur für mich oder für Louisa, sondern stellvertretend für alle, die wollen, dass ihre Kinder sich irgendwann allein im Straßenverkehr bewegen können und die nicht der Meinung sind, dass jeder Autofahrer ein totes Kind frei hat, bevor man dafür in den Knast geht. Denn das Urteil vom Mittwoch bedeutet genau das.